Smarte Materialien

High Tech meets Low Tech

form special issue
Herbst 2008

Verlag

Birkhäuser (Basel)

Wer heute Produkte und Lösungen gestaltet, sollte sich nicht allein auf die allerneuesten High-Tech-Materialien verlassen. Viele Designer greifen derzeit wieder auf einfache Ideen und herkömmliche Werkstoffe zurück, lösen sie aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang oder kombinieren sie mit hochkomplexen Innovationen. Wir zeigen, wie sich High Tech und Low Tech ergänzen.

Er sieht aus wie ein ganz normaler Flieger, wie ihn Kinder im Kindergarten basteln. Mit wenigen Handgriffen faltet Takuo Toda ein Blatt Papier zu einem funktionstüchtigen Flugobjekt. Nur sein Name – Orispace – und seine Form, die an ein amerikanisches Space Shuttle erinnert, deuten darauf hin ,dass es sich um etwas Besonderes handelt. Der Vorsitzende der Origami Airplane Association hat eine Vision, die auf den ersten Blick völlig absurd erscheint: Er will seinen Papierflieger aus der Raumstation ISS werfen und sicher auf der Erde landen lassen. Jedes Kind weiß doch, dass Materie beim Eintritt in die Atmosphäre verglüht. Doch was zunächst erstaunlich klingt, kann der Japaner ganz einfach erklären. Bei einer derart langsamen Sinkgeschwindigkeit – der Papierflieger wäre drei Tage unterwegs – sei die Reibung so niedrig, dass die Wärmeentwicklung deutlich geringer ausfalle als etwa beim Space Shuttle. Außerdem soll ein spezielles Papier aus langen Zuckerrohrfasern verwendet werden, das sehr viel schwerer und stärker ist als normales Büropapier und nach einer zusätzlichen chemischen Behandlung auch der thermischen Belastung standhalten müsste.

Es überrascht nicht, dass wir einem Papierflieger den Flug durchs All gar nicht zugetraut hätten, und genauso geht es uns auch mit anderen Projekten.Sie machen eine Entwicklung anschaulich, die man aktuell in vielen Produktbereichen erkennen kann: Auf der einen Seite werden High-Tech-Innovationen auf dem Gebiet der Robotik oder Bionik vorangetrieben, auf der anderen Seite jedoch nutzt man bewährte Konstruktionen und Materialien, um daraus in fachfremden Kontexten neue Anwendungen zu entwickeln. Einfache, aber intelligente Lösungen können mit technisch hochkomplexen Produkten mithalten. Während Festo die Entwicklung quallenartiger Robotersysteme mit autonomer Schwarmintelligenz verkündet (Aqua Jelly), wird die Verwendung eines Segels zum Antrieb von Frachtschiffen als revolutionäre Innovation gefeiert (Sky Sails). Da treffen sich Experten zur Fachkonferenz „Lehm 2008“ und diskutieren über die Nachhaltigkeit eines natürlichen Bauwerkstoffs, den schon die ersten Menschen nutzten, und zur gleichen Zeit werden biologisch abbaubare Kunststoffe Realität, die man mit dem Gemüseabfall auf den Komposthaufen werfen kann. Verbundwerkstoffe wie zum Beispiel Hylite oder Hybrix finden Einsatz im Flugzeugbau, können aber auch bei der Anfertigung von Koffern oder zum Aufziehen von Bildern genutzt werden. Und für die Zukunft ist die Verwendung recycelbarer Platinen aus Zellulose in der Elektroindustrie geplant. Der Unterschied zwischen High Tech und Low Tech funktioniert nicht mehr als Qualitätsmerkmal. Eine Erkenntnis, die sich branchenübergreifend durchzusetzen scheint.

Auch das, was Designer und Architekten heute entwickeln, erscheint ausgesprochen ambivalent – es gibt äußerst simple Konzepte und hochkomplexe Produkte. Ein Paradebeispiel für die neue Einfachheit ist der Hundert-Dollar-Laptop, den Yves Béhar gestaltet hat. Angetrieben von einem Seilzuggenerator und einer Handkurbel, soll der Computer auch Kindern in den entlegensten Gegenden der Welt Wissen vermitteln. „One Laptop per Child” lautet der eingängige Titel des Projekts. Dass die Kinder mit dem Rechner erst einmal und vor allem spielen werden, war wohl zu erwarten, ändert aber am Prinzip nichts. Einfache und nachvollziehbare Lösungen haben wieder ihren Platz gefunden in einer Gesellschaft, die nach der Verlagerung ganzer Industriezweige in die Billiglohnländer das Gefühl dafür verloren hat, wie Entstehungsprozesse von Produkten aussehen und welche Möglichkeiten es gibt, Form und Materialität, Farbe und Charisma individuell zu bestimmen. Längst vergessene Herstellungstechniken erleben derzeit in der Neo-Craft-Bewegung eine Renaissance. Und durch die Verwendung herkömmlicher Materialien in völlig neuen Kontexten verwandelt sich unsere Umwelt in einen riesigen Möglichkeitsraum: Pflaster mit Swarovski-Kristallen werden zu Schmuckstücken, Laternen bekommen ein flauschiges Textilkleid, und Hotels wirken wie monolithische Eiswürfel.

Häufig verbirgt sich hinter einfachen Lösungen allerdings langjährige Entwicklungsarbeit. Das zeigen beispielsweise die selbsthaftenden Textilien(Gecko Multifix), die seit einigen Monaten auf dem Markt sind. Und offensichtlich wird das vor allem bei Produkten aus so genannten „smart Materials“, deren Funktionskomplexität man von außen gar nicht mehr erkennen kann: Elektrisch leitfähige Textilien ermöglichen den mobilen Mediengenuss („wearable Computers“), und thermochrome Beschichtungen sorgen für optimale klimatische Bedingungen, indem sie auf Glasfassaden Sonnenstrahlen reflektieren. Materialität bedeutet heute also Hochtechnologie und Einfachheit zugleich. Alles scheint möglich in einer Zeit der großen Umbrüche und riesigen Herausforderungen. Low Tech trifft High Tech: Die nächste Dekade gehört den Material- und Technologie-Innovationen – und den Designern und Architekten, die es verstehen, Werkstoffe auf intelligente Weise einzusetzen.

Bildquelle: Festo