Der Traum von einer nachhaltigen Produktkultur
Innovationen für eine neue Zukunft
form special issue
Frühjahr 2012
Verlag
Birkhäuser (Basel)

Mit Blick auf die steigenden Treibstoffpreise an unseren Tanksäulen zeigt sich immer deutlicher, dass sich unsere Lebensweise und Industriekultur auf den Verbrauch von endlichen Ressourcen mit begrenzter Verfügbarkeit stützt. Immer schwieriger erscheinen die Sicherstellung unseres Energiebedarfs und die Bereitstellung der notwendigen Rohstoffmengen für unser Konsumverhalten. Die Gesellschaft ist sich mittlerweile der Tragweite bewusst, das zeigen nicht erst die jüngsten Wahlerfolge der Grünen, die vor allem mit dem Wunsch nach einer Wende der Energiepolitik hin zu einem höheren Anteil regenerativer Energien zu erklären ist. Die Konsumenten in den Industrienationen stellen sich so langsam auf einen radikalen Wandel unser Produktkultur ein, der einhergeht mit einer Ressourcen schonenden und bewussten Verwendung von Materialien und einem energieeffizienten Produktgebrauch. Das Thema Nachhaltigkeit ist zum Zauberwort für einen Wandel hin zu einer besseren, saubereren Produktwelt und Designkultur geworden.
Mehr und mehr wird deutlich, dass vor allem die Designer bei der Entwicklung dieser neuen Kultur im Umgang mit den Ressourcen eine besondere Verantwortung übernehmen. Sie sind es, die über die Wahl der eingesetzten Werkstoffe entscheidenden Einfluss auf die Nachhaltigkeit unserer Produktwelt nehmen können und machen insbesondere in den letzten Monaten regen Gebrauch davon. Ein Ansatz ist die Verwendung von Reststoffen und Abfallmaterialien in den Entwürfen. So fiel der niederländische Designer Dirk vander Kooij auf dem DMY Design Festival 2011 in Berlin mit einem Produktionsverfahren zur Herstellung von Möbeln auf Basis geschredderter Kunststoffabfälle aus Kühlschränken auf. Und während die Designerin Johanna Keimeyer aus Berlin Plastikabfälle zu skulpturalen Kronleuchtern erhebt, entdecken immer mehr Gestalter die Recyclingfähigkeit von Zellulosefasern aus Altpapier für sich. Die Möglichkeiten für Objekte und Accessoires zeigten nicht zuletzt der Paperchair des Schweizers Mario Stadelmann oder die Pulp Collection des Niederländers Jo Meesters im letzten Jahr. Nun macht das Berliner Label ett la benn mit der Leuchten- und Vasenserie Kami auf sich aufmerksam, die zu 100% auf bioabbaubarer Zellulose besteht. Dass sich aber auch organische Abfälle für die Erstellung von Produkten eignen, hat vor allem der Designer Julian Lechner herausgearbeitet. Im Projekt Ex-Presso verwendete er zur Herstellung von Tassen den Kaffeesatz aus Espressomaschinen und verfestigte ihn mit natürlichen Bindemitteln wie Kasein oder Bioharzen. Nutzt man karamellisierten Zucker als Bindemittel lassen sich die Tassen nach dem Gebrauch sogar als süße Desserts verzehren!
Dass sich hochfeste Naturmaterialien wie Bambusrohre neben architektonischen Anwendungen auch für industrielle Produkte eignen, wird aktuell von einer Vielzahl von Designern für Fahrradrahmen entdeckt. Einer der ersten war der kalifornische Designer Craig Calfee. Mittlerweile geht die Welle um die Welt, und in Berlin werden seit dem Frühjahr unter dem Namen Berlin Bamboo Bikes bereits Selbstbau-Workshops angeboten. Der große Vorteil von Bambus: Es ist ein schnell wachsendes Gras, das eine ausreichende Beständigkeit zur Aufnahme von Druckfestigkeiten aufweist und sich daher als Konstruktionswerkstoff eignet. Auch das Holz im äußeren Randbereich von Kokospalmen oder Kokosnüssen weist besondere Härten auf und eignet sich daher als Wandbeläge und für Fußböden. Kokosnussmosaike bieten daher zahlreiche neue Potenziale für Gestalter und zählten Anfang Juni zu den Werkstoffen im erstmals ausgetragenen DMY Materials Workshop in Berlin-Tempelhof. Ein weiterer Schwerpunkt lag in den Workshops auf Biokunststoffen, deren Produktionsmöglichkeiten in den letzten 5 Jahren eine Renaissance erleben. Dass sich Kunststoffe aus Kartoffelstärke oder Zellulose herstellen lassen, ist bereits seit mehr als Hundert Jahren bekannt. Ihre Herstellung gewinnt mit den knapper werdenden Erdölressourcen immer mehr an Bedeutung, die sich auch für Designer erschließen, und das nicht nur im Verpackungsbereich. So stellt Marvel seit einiger Zeit Architekturpaneele auf Basis von Pflanzenfasern her, die nicht nur eine CO2-neutrale Ökobilanz aufweisen sondern auch noch kompostierbar sind. Dies könnte sich perspektivisch positiv im architektonischen Umfeld auswirken. Evonik hat sich bei der Entwicklung von Hochleistungspolyamiden auf die Verwendung pflanzlicher Fettsäuren auf Basis von Rizinusöl fokussiert. Werden diese mit Bambusfasern verstärkt erhält man nahezu unkaputtbare Formteile wie die Teilnehmer des DMY Materials Workshops am Beispiel eines Brillengestells entdecken konnten.
Bei der Suche nach Alternativen für synthetisch erzeugte Werkstoffe setzen die Produzenten mittlerweile auf organische Wachstumsprozesse, die ausgelöst werden durch Proteinen, Bakterien, Enzymen oder Pilzen. Beispiel ist die PolyNature GmbH aus Halle, die Kunststoffe für landwirtschaftliche Produkte und Tablettenummantelungen mit Proteinen aus Abfällen der Futtermittelindustrie erzeugen. Versucht sich der Chemieriese Merck an der Veredelung von Textilien mit Enzymen, so entwickelt man bei Evonik derzeit in Kooperation mit dem Helmholtz-Institut ein Verfahren für die bakterielle Erzeugung von Acrylglas. Dass sich die Unternehmen nicht mehr nur im Forschungsstadium befinden, sondern Materialien tatsächlich auf organische Weise erzeugt werden können, zeigt Ecovative Design aus New York mit Hartschaumstoffen als Styroporersatz, die sie unter Zuhilfenahme fadenförmiger Myzelpilze produzieren. Organischer Abfall wie die Schalen von Getreide oder Reis wird von mikroskopisch kleinen Fäden umsponnen bis ein Schaumstoff entsteht. Großer Vorteil: Im Vergleich zu konventionellen Verfahren wird lediglich ein Zehntel der Energie benötigt.
Die Kultivierung von Pilzen hat mittlerweile eine große Fangemeinde gefunden. So hat sich das Projekt „Fungutopia“, das an der Kunsthochschule für Medien in Köln begonnen wurde, als online-community installiert, um das Know-How zur Verwendung von Pilzen für Medizin, als Nahrung oder Dünger zu verbreiten. „Pilze lassen sich auf einfache Weise kultivieren. Ihr Wachstum ist daher vor allem auch für Städte besonders geeignet“, so die Initiatoren Laura Popplow und Tine Tillmann. Die beiden führen Workshops zu Techniken der Pilzzucht durch und geben Hinweise für den Bau von Pilzgewächshäusern.
Ein ähnlich großes Interesse unter Designern erfährt gerade bakteriell erzeugte Zellulose. Einer der Protagonisten ist die Designerin Suzanne Lee aus London, die unter dem Label BioCouture Mode mit Bakterienkulturen erstellt. Unter Zugabe von grünem Tee und Zucker spinnen die Mikroben in einem Fermentationsprozess Zellulosefäden zu einem gel-artigen Flächentextil und erzeugen dabei ganz nebenbei eine hochkomplexe dreidimensionale Nanostruktur. Da Bakterienzellulose in nahezu jede Form hineinwachsen kann, ist sie natürlich auch für andere Formgeometrien interessant. Jannis Huelsen hat sich beispielsweise an die Gestaltung eines Sitzmöbels mit bakteriell erzeugter Zellulose gewagt. In Zusammenarbeit mit dem fzmb aus Thüringen entstand der Hocker „Xylinum“ mit einer spektakulären Oberfläche in lederartiger Struktur.
Sie sind also angerichtet, die Zutaten für eine neue Produktwelt, aus einer organisch gewachsenen Designkultur!
www.dirkvanderkooij.nl
www.keimeyer.com
www.jomeesters.nl
www.ettlabenn.com
www.calfeedesign.com
www.decor-pietra.de
www.marvel-display.de
www.ecovativedesign.com
www.fzmb.de
www.jannishuelsen.com
Bildquelle: Dirk vander Kooij
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