Die Zukunft formen

Angela Mrositzki im Gespräch mit Dr. Sascha Peters

Magazin Vision + Optic, September 2016
Mediengruppe Oberfranken

Leichter, flexibler, resistenter, ökologisch unbedenklich. Geht da noch mehr bei Brille und Glas? Gibt es noch effizientere Materialien und Technologien, oder gar noch unentdeckte Materialeigenschaften und damit Ansätze für eine neue Designästhetik? Doch die Zukunft liegt schon in der Gegenwart, und damit auch das zunehmende Bewusstsein für einen umweltverträglichen Umgang mit Werkstoffen, das Denken in Materialkreisläufen, ressourcenschonende Konstruktionen und regenerative Energietechnologien. Nicht zuletzt, weil technologischer Fortschritt die Voraussetzung für eine prosperierende Wirtschaft schafft.

Mrositzki: Dr. Sascha Peters, welche Entwicklungen wird die Industrie in ihr Zukunftsdenken einbeziehen müssen?

Sascha Peters: An erster Stelle das Thema „Nachhaltigkeit“, auch wenn es manche nicht mehr hören können. Denn die wesentlichen Herausforderungen für die industriellen Gesellschaften sind bislang nur in Ansätzen gelöst. Wie gehen wir in Zukunft mit Ressourcen um? Wie erzeugen wir die für unseren Mobilitätsdrang notwendige Energie? Wie bewältigen wir all die drängenden Fragestellungen um den Klimawandel? Der Umgang mit Nachhaltigkeitsthemen ist für die Unternehmen essentiell, denn die Kunden erwarten Antworten und Angebote.

Hinzu kommt eine immer weiter fortschreitende Digitalisierung unserer Lebenswelten. Die Technologien sind zwar seit langem bekannt, jedoch ist die Umstellung der Angebote für viele Unternehmen nach wie vor schwierig. Die Zukunft vieler Geschäftsmodelle steht auf dem Prüfstein. In diesem Zusammenhang nehmen wir verstärkt Entwicklungstätigkeit im Bereich der „smart materials“ wahr. Gemeint sind High-Tech-Werkstoffe, die auf Umgebungseinflüsse reagieren und bestimmte Eigenschaften verändern oder Stoffe freisetzen können. Ein Beispiel kommt vom Fraunhofer IWU aus Dresden. Der „Solar Curtain“ ist ein Sonnenschutz mit integrierten Formgedächtnislegierungen (FGL), der auf Wärme reagiert und sich bei Erreichen einer bestimmten Temperatur selbsttätig öffnet. Wird es zu warm, erinnert sich das Material daran, dass es einmal in einer anderen Form war und wandelt sich in diese zurück.

Mrositzki: Speziell zur Brillenindustrie: Welche innovativen, intelligenten Werkstoffe und Verarbeitungsverfahren könnten das Fassungsdesign voranbringen, ja vielleicht sogar revolutionieren?

In der Brillenindustrie wurden mit vielfältigen neuen Materialien in den letzten Jahren viele Designkonzepte entwickelt. Dies trifft auf den Bereich natürlicher Werkstoffe wie Holz, Bambus oder Horn ebenso zu wie auf vermeintliche High-Tech-Materialien wie Titan oder Federstahl, die eine besondere Stabilität, Raffinesse und Leichtigkeit mit sich bringen. Aktuell kommen zwei Technologiethemen neu dazu. Das eine betrifft mit den additiven Fertigungsverfahren und dem 3D-Druck die kundenindividuelle Produktion von Fassungen. Das andere Thema geht in den Bereich der Digitalisierung. In Zukunft werden wir nicht nur das Smartphone als ständigen Begleiter für den Erhalt digitaler Informationen ständig mit uns führen, sondern auch unsere Brille, die uns, ausgestattet mit Augmented Reality, Zusatzinformationen im Straßenverkehr, bei der Besichtigung eines Museums oder bei einem Stadtbesuch geben wird.

Mrositzki: Stichwort „aufgeladene“ Materialien mit sensitiven oder smarten Eigenschaften, die zu einer Überschneidung von Natur und Artefakt führen. Ist das auch für die Innovation der Brille denkbar?

Was tatsächlich stattfindet, ist die Wiederentdeckung von Qualitäten bestimmter natürlicher Werkstoffe und Konstruktionsprinzipien, die man in der Technik und für das Design nutzen kann. Ein wunderbares Beispiel ist das Silk Leaf des Designers Julian Melchiorri. Er hat ein künstliches Blatt aus Seidenproteinen und pflanzlichen Chloroplasten entwickelt, das in der Lage sein soll, den Kohlendioxidgehalt in der Luft in Sauerstoff umzuwandeln. Es wäre doch eine Sensation, wenn Materialien in Zukunft so etwas leisten könnten. Für die Brillenindustrie interessant sind Entwicklungen auf Basis natürlicher Rohstoffe, die antibakterielle Eigenschaften aufweisen. Bei dem Birkenrindenmaterial bm1 von Betula Manus kann man diese Qualität finden. Oder bei dem Kunststoff QMilk, der auf Basis der Proteine von nicht verkehrsfähiger Milch gewonnen wird.

Mrositzki: Die Menschen heute sind kritisch, was Materialien, Inhaltsstoffe und Herkunft von Produkten betrifft. In der Optikindustrie ist die Anwendung umweltverträglicher Werkstoffe kein wirkliches Thema. Was wären aus Ihrer Sicht wichtige Argumente dafür?

Wer sagt, dass ein Brillengestell aus einem Baumwollacetat ökologischer ist als eines aus einem metallischen Werkstoff? Metalle können in aller Regel besser recycelt werden als Kunststoffe und weisen eine höhere Lebensdauer auf. Das Thema Lebensdauer muss bei allen Naturstoffen kritisch hinterfragt werden. Es sei denn, natürliche Materialien werden mit keinem anderen Werkstoff beschichtet, verbunden oder verstärkt. Dann wäre das Produkt biologisch abbaubar. Ich glaube nur nicht, dass Brillengestelle heute immer nur aus einem Material bestehen. So könnten Fassungshersteller einmal einen Reststoff oder ein Abfallmaterial aus einer anderen Industrie oder Branche verwenden. Ford testet übrigens gerade in Kooperation mit Heinz Ketchup, wie man die bei der Ketchup- Produktion anfallenden Tomatenschalen zur Verstärkung von Kunststoffen einsetzen könnte. In einem anderen Entwicklungsvorhaben hat der US-Amerikaner Gary Linden einen Herstellungsprozess für ein Surfbrett konzipiert, bei dem er das Board zu 100 Prozent aus Reststoffen der Destillation von Agaven zu Tequila zusammensetzt. Der Berliner Designer Julian Lechner hat eine Tasse konzipiert, die er zu einem Großteil aus Kaffeesatz herstellt. Ich denke, dass wir da noch nicht am Ende angekommen sind. Reishülsen, Ananasfasern, Weizenstroh: Wenn man gründlich sucht, wird man viele Wertstoffe als geeignet für die Brillenindustrie ausfindig machen können.

Mrositzki: Wie können Brillendesigner sich in der Materialwelt schlau machen?

Wir geben auf unserer Website Anregungen und stellen immer wieder spannende Materialinnovationen vor. Einmal im Monat gibt es einen Newsletter rund um innovative Technologien. Eine Vielzahl von Datenbanken erfassen weltweit die wichtigsten Materialentwicklungen.

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Bild: Solar Curtain mit Formgedächtnislegierungen FGL (Quelle: Fraunhofer IWU, Dresden; Weißensee Kunsthochschule Berlin)