Die Intelligenz des Materials

Innovationen für eine neue Zukunft

form special issue
Frühjahr 2009

Verlag

Birkhäuser (Basel)

B.Lab smart Interaktionspanel

Der Welt der Produkte scheint ihre Materialität abhanden zu kommen. Musik etwa, einst auf Platten gepresst und in Hüllen gesteckt, erfährt zwischen Kauf und Wiedergabe fast keine Materialisierung mehr: Im Internet wird sie uns in digitaler Form verkauft, und selbst die mp3-Player sind mittlerweile so klein, dass sie in der Brusttasche verloren gehen. Unser Leben ist bereits in vielen Bereichen virtualisiert, entmaterialisiert. Es lässt sich eine Distanz von den Dingen, vom Gegenständlichen erkennen, die sich die Generation unserer Großeltern nicht hätte vorstellen können.

Mit den neuen elektronischen Medien, den digitalen Finanzströmen, der allgegenwärtigen Verfügbarkeit von Informationen scheint das Ende der guten alten mechanisierten, haptischen Welt gekommen. Trendforscher prophezeien das seit Jahren. Doch schaut man sich die Vielzahl neuer Werkstoffe an, die in diesem Jahr auf Events wie der Material Xperience von Materia in Utrecht, der Ausstellung Caméléon von Innovathèque in Paris (bis September 2009), der Material Vision in Frankfurt (16. – 18. Juni 2009) und nicht zuletzt in zahlreichen Materialbibliotheken und Datenbanken präsentiert wurden und werden, scheint das Materielle gerade mit voller Wucht zurückzukehren. Ein Paradoxon? Oder der nächste Schritt in der Entwicklung unserer Produktwelten?

Das, was die Materiallabore derzeit ausspucken, hat neben der materiellen Komponente im traditionellen Verständnis immer auch eine virtuelle, weil intelligente Seite: Da reagieren Textilien auf Temperaturunterschiede und verändern ihre Form, Stein wird durchlässig für Lichtstrahlung, elektroaktive Polymere dehnen sich im elektrischen Feld und werden als „morphing materials“ in Zukunft Form und Eigenschaften von Flugobjekten beeinflussen. Diese neue Materie, nennen wir sie „reaktive Materie“, hat Zusatzfunktionen, die sich erst in der Anwendung zeigen. Schon lassen beeindruckende Zukunftsvisionen die Herzen der Designer höher schlagen, denn sowohl das mechanisierte, längst überholte Verständnis von Materialität als auch die Virtualität unserer Produktwelt scheinen momentan durch eine ganz neue Werkstoffkultur revolutioniert zu werden.

Bei dieser Revolution stehen die Kreativen dieser Welt, die Designer und Architekten, mit in der ersten Reihe. Denn wer sonst sollte einer unsichtbaren Funktion eine sinnvolle Anwendung geben, sie in die Wahrnehmung des Nutzers bringen? Es sind Kreative wie Yvonne Chan Vili, sie untersuchte als eine der ersten den Einsatz von Textilien mit eingewebten Drähten aus Formgedächtnislegierungen (FGL) für Raumteiler und Wandbehänge.FGL-Materialien speichern Forminformationen in ihrem molekularen Gefüge. Bei geringen Temperaturen können sie plastisch verformt werden, doch nach Erwärmung nehmen die Drähte wieder ihre ursprüngliche Form an und bestimmen so die Ausrichtung des textilen Gewebes. Bei starker Sonneneinstrahlung können FGL-Textilien zur automatischen Verdunklung von Räumen eingesetzt werden. Und die niederländischen Gestalter Frederik Molenschot und Susanne Happle verändern mit einem intelligenten Material das Stadtbild: Durch eine besondere Oberflächenbeschichtung verleihen sie tristen Betonsteinen bei Regen eine florale Ornamentik. Erst durch die Nässe werden die versteckten Dekorationen auf öffentlichen Plätzen und Fußwegen sichtbar – und etablieren eine neue urbane Zeichensprache. Die Neuentwicklung mit Namen „Solid Poetry“ wurde von Droog Design bereits auf der Mailänder Möbelmesse 2006 präsentiert, mittlerweile ist das erste Bauvorhaben mit Blumenbeton inEindhoven realisiert.

Doch all das scheint erst ein Anfang: Das Werkstoffinnovationszentrum Innovathèque in Paris präsentiert jetzt in der Ausstellung Caméléon eine ganze Reihe neuer reaktiver Werkstoffe. Noch bis September gibt es dort unter anderem Kunststoffe zu sehen, die unter Temperatureinfluss die Farbwechseln (Magicolor von IPS), Kunstleder, das bei Dehnung die Farbe ändert (Dines), Paneele, die den Fußabdruck hell erleuchten lassen (B.LAB Italia) oder Kunststoffe, die Wasser absorbieren und sich dabei ausdehnen (Industrial Polymers). Besonders für den Modebereich interessant sind auch hitzesensitive Anzugstoffe (Sommers Plastic Products), die unter Wärmeeinfluss einen leichten Farbstich erzeugen. Der Stoff wurde jüngst von Calvin Klein für seine Herrenkollektion genutzt.

In der Architektur wiederum spielen Glasfassaden eine immer wichtigere Rolle. Profitiert man im Winter von viel Licht und Wärme, ist ihre Durchlässigkeit für Strahlung im Sommer jedoch schnell unangenehm. Abhilfe versprechen hier Verbundgläser mit thermotropen Eigenschaften, die abhängig von der Lichteinstrahlung ihre Transparenz so wie ihre Reflexionseigenschaften verändern können. Das Fraunhofer IAP in Potsdam arbeitet momentan an thermotropen, hochreaktiven Gießharzen für solch e Fenster, die Solarstrahlung reflektieren – und zwar unsichtbar und ohne aufwendige Steuerung! Die Revolution der Materie hat gerade erst begonnen. Designer und Architekten sind jetzt aufgerufen, sich das Neue zunutze zu machen und die technischen Potentiale in sinnvolle Produkte zu überführen– als Demonstration gegen die Entmaterialisierung unseres Lebens.

Bildquelle: B.LAB Italy