Gleichberechtigung von Design und Technik

wörkshop Redaktion im Interview mit Dr. Sascha Peters

Magazin wörkshop 6/2011

GIT Verlag

Eine zunehmende Rückbesinnung auf nachwachsende Rohstoffe hat in der jüngsten Vergangenheit zu einer Fülle innovativer Materialien geführt. Im Interview mit wörkshop stellt Dr. Sascha Peters diese vor.

wörkshop: Werden neue Materialien heute auf andere Weise entwickelt als früher?

Dr. Sascha Peters: Ich denke nicht, dass früher Materialien anders entwickelt wurden als heute. Es haben sich jedoch die technologischen Möglichkeiten erweitert, so dass sich heute nahezu alles realisieren lässt. Von daher haben sich die Anlässe für Entwicklungen verändert. Denn musste man früher ein Material zur Realisierung einer neuen Funktion erst noch entwickeln, stehen uns heute so viele Werkstoffe zur Verfügung, dass meist die Anwendungen für diese Materialien fehlen und weniger die technologische Lösung.

wörkshop: Gerade in den letzten Jahren haben sich die Entwickler neuer Materialien vielfach sehr stark an der Natur und einzelnen Naturphänomenen orientiert und versucht diese „synthetisch“ nachzuahmen. Was sind die erstaunlichsten Materialien, die bislang hieraus hervor gegangen sind?

Dr. Sascha Peters: Das Kopieren von Spinnseide mit extremen Festigkeiten durch die AMSilk AG, die Herstellung von kratzfesten Oberflächen nach dem Vorbild des Sandfisches am Fraunhofer UMSICHT oder die Übertragung hochfester Leichtbaustrukturen von Kieselalgen auf die Konstruktion von Off-Shore-Windkraftanlagen am Alfred Wegener Institut sind wohl einige der spannendsten Entwicklungen der letzten Jahre, die auf bionische Prinzipien zurückgehen. Was sich derzeit zudem beobachten lässt, ist die Kopie der Wachstumsprinzipien der Natur auf die Herstellung von Materialien. So werden Schaumstoffe bei Ecovative Design durch Myzel-Pilze erzeugt. Das fzmb nutzt Bakterien zur Herstellung von Zellulosefasern und bei der PolyNature GmbH werden Proteine zur Produktion von Biokunststoffen genutzt. Insbesondere in diesen Bereichen werden in naher Zukunft weitreichende Entwicklungen erwartet.

wörkshop: Im Bereich temporärer Bauten wie z-B. bei Messen oder im Eventbereich werden leichte, optisch ansprechende und im Sinne der Nachhaltigkeit möglichst mehrfach verwendbare oder recycelbare Materialien bevorzugt. Welche Material-Neuentwicklungen sind Ihrer Ansicht nach für diesen Einsatzbereich prädestiniert?

Dr. Sascha Peters: Die Fülle der Leichtbaulösungen für den Event- und Messebereich ist in den letzten Jahren stark angestiegen. Vor allem werden neue Sandwichstrukturen angeboten, die sehr interessante Kernstrukturen aufweisen. Beispiel sind Luxpanel, die Strukturelemente von Leichtbauelement oder die Bambus-Leichtbau-Platte (BLPB). Hollomet bietet hier auch spannende Schaumstrukturen aus Metallen an. Einige Hersteller warten mit Pressteilen aus Naturfasern auf. Vor allem für den Messebereich bietet sich die Verwendung recycelter Materialien an, da die Präsentationsflächen nach dem Event meist direkt entsorgt werden. Zu empfehlen die Bioresin Kunststoffpaneele von Marvel oder die Platten aus Altkunststoffen von Smile Plastics.

wörkshop: Der übliche Weg, ein neues Produkt zu entwickeln, stellt die gewünschte Funktion in den Fokus und sucht dann die geeignete Form und das passende Material, um das Ganze umzusetzen. Ist auch der umgekehrte Weg möglich – ausgehend von Design und Material neue (auch technische) Produkte zu entwickeln? Und was haben Designer, Ingenieur und schließlich der Kunde davon?

Dr. Sascha Peters: Derzeit können wir einen Wandel des von Ihnen beschriebenen klassischen Innovationsverständnisses feststellen, einer Kultur, die Innovationen vor allem als Weiterentwicklung technologischer Funktionalitäten versteht und Design als finales formgebendes Element. In Zukunft wird sich die Rolle professioneller Kreativer von anwendungsbezogenen Umsetzern hin zu konzeptionell argumentieren- den Vordenkern für andersartige Möglichkeiten bewegen, die im Diskurs mit Herstellern zur Entwicklung neuer Materialien oder Fertigungsverfahren anregen oder sie selber entwickeln. Ein Beispiel ist der von der Künstlerin Heike Klussmann und dem Architekten Thorsten Klooster entwickelte Beton „Blingcrete“, der durch Integration kleiner Glaskugeln eine retroreflektierende Oberfläche aufweist. Dies bedeutet, dass Lichtstrahlen immer in die Richtung aus der sie kommen reflektiert werden und somit neue Möglichkeiten funktionaler Fassaden und Markierungen ermöglichen.

wörkshop: Wie sehen Sie die oder stehen Sie zur Weiterführung oder Ergänzung der Bauhaus-Devise „form follows function“ zu „Material formt Produkt“, die bspw. das Hessische Wirtschaftsministerium in einer Veranstaltungsreihe aufgegriffen hat?

Dr. Sascha Peters: Da es heute weniger darauf ankommt, neue technologische Lösungen für Spezialapplikationen zu entwickeln als vielmehr vorhandene Optionen durch Kombination in marktfähige Produkte zu überführen, sehe ich die Funktion von Designern immer stärker darin, die uneingestandenen Wunsche beim Kunden aufzuspüren, in Entwicklungen berücksichtigen und technische Funktionen in einen emotionalen Mehrwert zu überführen.„form follows function“ greift meiner Meinung nach immer seltener, denn hier geht man von einer sequenziellen Entwicklungstätigkeit aus, in der die Form aus der Funktion abgeleitet wird, diese also schon vorliegen muss. Erfolgreiche Unternehmen parallelisieren jedoch die Entwicklung der technologischen Exzellenz und der Produktanwendung bzw. der Designlösung immer stärker und erhöhen damit die Erfolgswahrscheinlichkeit von Innovationen. Dies setzt eine funktionierende Kooperation zwischen Design und Engineering im Entwicklungsprozess voraus und eine Gleichberechtigung der Disziplinen.

wörkshop: Welchen Einfluss kann das verwendete Material tatsächlich auf das Design haben? (Ein frühes Beispiel in der Designgeschichte ist hierzu vielleicht der Panton Chair aus den 1950igern.)

Dr. Sascha Peters: Designer benutzen Algen zur Erzeugung von Vasen und Skulpturen, stellen Mode mit Bakterien her, Formteile aus Pilzen und Fahrräder aus Bambus. Heute werden Designer durch die zur Verfügung stehenden Materialien nicht mehr eingeschränkt wie in den 1950iger und 1960iger Jahren sondern zu neuen Lösungen inspiriert. Von daher hat sich der Einfluss des Materials auf den Designprozess enorm gewandelt.

wörkshop: In welchen neuen Materialen sehen Sie persönlich viel Potential?

Dr. Sascha Peters: Die größten Potenziale sehe ich in den Materialien, die auf natürlichen Wachstumsprozessen basieren. Denn die Tage der Petrochemie sind gezählt. So befinden wir uns kurz vor einem einschneidenden Wandel unserer Material- und Produktkultur. Die werkstofflichen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts, die wir vor allem dem Erdöl als Ressource zu verdanken hatten, werden in naher Zukunft schon ihre Bedeutung verloren haben. Das Bewusstsein für den umweltverträglichen Umgang mit Werkstoffen und das Denken in Materialkreisläufen ist beim Konsumenten angekommen. Die Verwendung umweltverträglicher Materialien mit multifunktionalen Eigenschaften und die Nutzung nachhaltiger Produktionsverfahren werden von der Gesellschaft in vielen Bereichen bereits vorausgesetzt. Einen Überblick zu Nachhaltigkeitsaspekten neuer Materialien finden Sie in meinem neuen Buch Materialrevolution, das im Januar 2011 beim Birkhäuser Verlag erschienen ist. Es um natürliche und biologisch abbaubare Materialien ebenso wie um Werkstoffe mit multifunktionalen Eigenschaften (z. B. thermochrome Gläser oder luftreinigende Oberflächen) und Potenzialen zur Verringerung des Energieeinsatzes (z.B. Leichtbauwerkstoff, Phasenwechselmaterialien).

Viel Spaß beim Lesen!

Bild: Leichtbaumaterialien aus Bambusringen (Quelle: Wassilij Grod, Berlin)